Erfahrungsbericht von Chris – unserem Senior Consultant aus London! Er war auf dem Weg nach China… als dann das Coronavirus ausbrach…
Mitte Januar machte ich mich nach China auf, um unter anderem unseren chinesischen Kollegen in Shenzhen einen Besuch abzustatten. Das Coronavirus hatte ich zu diesem Zeitpunkt ehrlich gesagt so gut wie gar nicht auf dem Radar. Es sollte alles andere, als ein regulärer China-Aufenthalt werden. Meine Eindrücke habe ich in diesem 2-teiligen, mal etwas anderen Blog-Beitrag, für euch festgehalten.
Teil 1 – Hongkong & Shenzhen
Auf dem 11-stündigen Flug von London Heathrow nach Hongkong habe ich natürlich so gut wie nicht geschlafen. Gegen ca. 16:00 Uhr Ortszeit erfolgt die Landung. Schon im Flughafen andere Luft: Kantonesische Feuchtigkeit, Klimaanlage, obwohl draussen Winter und 20 Grad war. Ich bleibe im Transfer-Bereich und begebe mich in Richtung der Schalter, an denen man die Tickets für die unterschiedlichen Fähr-Verbindungen erwerben kann. Diese gehen direkt vom Flughafen Hongkong aus in Richtung Mainland China. Noch im Transferbereich fallen mir Bodenpersonal mit Atemschutzmasken und Körpertemperatur-Messgeräten auf. In Asien kein aussergewöhnliches Bild, und nur einen kurzen Moment denke ich an einen guten Freund, der mir vor kurzem etwas über einen neuartigen Virus erzählt hat, der in China seit Ende des letzten Jahres für Schlagzeilen sorgte. Da dieser gewisse Freund nicht selten zu Übertreibungen neigt, hält der Gedanke nur wenige Sekunden. Bis zur Abfahrt der Fähre sind es noch anderthalb Stunden. Um mich herum nun mehrheitlich Kantonesisch und Mandarin. Dann Abfahrt mit dem Boot hinein in die Blaue Stunde. An Bord ein Fensterplatz, die Aussicht ist jedoch durch die ungewaschenen Fensterscheiben und den abendlichen Dunst stark beeinträchtigt und so zieht die Aussenwelt schleierhaft und unklar an mir vorbei. Nach ca. 45 Minuten Ankunft im Shenzhener Fähr-Hafen im Küstenbezirk Shekou. Bei der Passkontrolle (die offizielle Einreise in die Volksrepublik China erfolgt erst hier) nimmt der Grenzbeamte meinen Pass besonders lange und ausgiebig unter die Lupe. Er bittet mich die Locken, die meine Stirn bedecken, kurz anzuheben und in einem bestimmten Winkel in eine kleine Kamera zu blicken. Auf Deutsch erfolgen dann automatische Ansagen, die mich anweisen, meine Fingerabdrücke in unterschiedlicher Reihenfolge auf einer dafür vorgesehenen Fläche abscannen zu lassen. Dann bekomme ich endlich den Stempel in den Reisepass und betrete das erste Mal seit über zwei Jahren wieder chinesischen Boden. Das hochmoderne, riesige Hafen-Terminal ist neu. Beim Verlassen des massiven Gebäudes kein Ansturm von Schwarztaxi-Fahrern, die einen naiven Neuankömmling über das Ohr hauen wollen. Nur ein einziger, und der ist noch nicht mal hartnäckig. Es hat sich einiges geändert, denke ich fast enttäuscht. Ich stelle mich am Taxistand in die Warteschlange und sitze schon bald in einem lautlosen Elektro-Taxi in Richtung Nanshan District. Es ist bereits dunkel und die bunten Lichter der endlosen Wolkenkratzer leuchten hell im Dunst der subtropischen Nacht. Dann endlich Ankunft und Check-in meiner Unterkunft. Schnell noch draussen zu Abend essen und dann wieder aufs Zimmer, da ich völlig übermüdet bin. Mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen: Für einen Samstag-Abend ist auf den Strassen überraschend wenig los.
Am nächsten Tag steht ein Mittagessen mit den chinesischen Kollegen an. Die Freude auf das Wiedersehen ist gross. Wir treffen uns in einem «Coconut Chicken Restaurant» im Osten der Metropole. Man sitzt gemeinsam um einen grossen Tisch und lässt es sich schmecken. Es gibt einiges zu erzählen. Gesprächsthema ist unter anderem der neuartige Virus. Hier erfahre ich das erste Mal mehr. Mehr über rasant ansteigende Infektionen, mehr über das Epizentrum Wuhan und mehr über die zunehmend drastischen Massnahmen in vielen Teilen des Landes. Zwei der anwesenden Kolleginnen stammen aus Wuhan und werden in wenigen Tagen dorthin zurückkehren, um mit ihren Familien das anstehende Neujahrsfest zu feiern. Dass sie so schnell nicht mehr von dort nach Shenzhen zurückkehren werden, ahnt zu diesem Zeitpunkt wohl niemand. Überhaupt begegnet man dem Thema eher mit Humor. Von Panik oder gar Angst ist bei den Kollegen keine Spur festzustellen.
Die nächsten Arbeitstage verbringe ich überwiegend im Hotel und treffe mich so oft es geht mit unserem chinesischen Kollegen Woad. Ein Besuch in unserem Office würde sich nicht lohnen, da fast alle Mitarbeiter bereits in den Neujahrsferien sind. Die Nachrichten verfolge ich in den ersten Tagen kaum. Über einen chinesischen Freund erfahre ich, dass nun auch in Shenzhen die ersten Infektionen gemeldet wurden. Ich solle sofort in die nächstbeste Apotheke gehen und so viele Atemschutzmasken wie möglich kaufen, denn diese würden bald ausverkauft sein, betont er mehrmals. Ich nehme den Rat dankend an, begebe mich jedoch nicht zur erstbesten Apotheke, da ich das alles ehrlich gesagt für ein wenig übertrieben halte. Von nun an wasche ich mir die Hände jedoch besonders regelmässig und ausgiebig. Noch am selben Tag widme ich mich das erste Mal bewusst den Nachrichten. Überrascht stelle ich fest, dass der Virus auch in den westlichen Medien das Top-Thema zu sein scheint. Die Prognosen sind düster. Besonders die anstehende Völkerwanderung anlässlich des chinesischen Neujahrsfestes wird als besonders hoher Risikofaktor dargelegt, da er die Pandemie schlagartig im ganzen Land vorbereiten könne. Da ich ein Teil dieser Völkerwanderung sein werde (in wenigen Tagen geht mein Flieger in die süd-westliche Provinz Yunan), überfällt mich das erste Mal seit meiner Ankunft ein leicht mulmiges Gefühl. Das mit den Masken ist vielleicht doch keine so schlechte Idee, denke ich.
Am nächsten Tag suche ich bei Gelegenheit eine Apotheke auf. In der kleinen Filiale herrscht grosser Andrang. Und schnell realisiere ich, dass hier alle dasselbe wollen. «Kouzhao» ertönt es unentwegt – Mandarin für Mundschutz. Die Masken werden aus offenen Kartons verkauft, die auf dem Boden stehen. Man kommt sich vor wie beim Sommerschlussverkauf von H&M. Ich ergattere drei Packungen von je fünf Stück. Über Nacht ist die Anzahl der Infizierten in Shenzhen nochmals rasant gestiegen. Auf der Strasse fallen mir nun immer mehr Menschen mit Mundschutz auf. Ich entschliesse mich, meine Maske jedoch erst bei Antritt der Reise anzulegen.
Die Nachrichten verfolge ich nun mehrmals täglich mit. Eine Besserung der Lage ist nicht in Sicht, im Gegenteil: Steigende Infektionsraten, immer mehr Todesfälle und die nun vollständige unter Quarantäne stehende Millionenstadt Wuhan. Im Hotel lerne ich Tyrone aus Brooklyn und Rahid aus Mumbai kennen. Tyrone ist Schlagzeuger und tritt fast jeden Abend als Teil eines Jazz Trios in einer nahe gelegenen Bar auf. Rahid, ein kleiner, äusserst gesprächiger älterer Herr mit Kugelbauch und Schnauzer, ist laut eigener Aussage halb geschäftlich und halb privat in China. Beide machen sich wegen des Virus nicht allzu grosse Sorgen. Besonders Rahid gibt sich unbeeindruckt. Er habe keine Angst vor dem Tod, betont er mehrmals fast euphorisch. Tyrone lädt mich für den übernächsten Abend ein, ihm in der Bar beim Spielen zuzusehen.
Am vorletzten Tag sehe ich so gut wie niemanden mehr ohne Mundschutz. Vor den Apotheken stehen nun lange Schlangen. In der U-Bahn erste sichtbare Massnahmen. Pistolenartige Temperaturmessgeräte werden von eifrigem Sicherheitspersonal an den Kopf jedes einzelnen Fahrgastes gehalten, der die Station betritt. Die Zahl der Infizierten in Shenzhen ist weiterhin gestiegen. Ich erhalte erste besorgte WhatsApp-Nachrichten von Familie und Freunden aus der Heimat. Beim Mittagessen im Hotel steht auf einmal Rahid neben meinen Tisch und hält mir angeregt einen Vortrag über die norwegische Fahrradtour seines Sohnes, der im Übrigen nicht nur leidenschaftlicher Extremsportler, sondern auch erfolgreicher Diplomingenieur sei. Die soeben servierte Nudelsuppe samt Löffel und Stäbchen habe ich noch nicht angerührt. Im Eifer seines Vortrages greift Rahid plötzlich nach meinem hölzernen Suppenlöffel (mit den Fingern auf der Essfläche) und betrachtet diesen sehr lange und ausgiebig, bevor er ihn ohne Kommentar wieder auf meinen Tisch legt. Er findet ein Ende und geht zum nächsten Tisch, um ein neues Gespräch zu beginnen. Ich bin hungrig und dankbar, dass man in China seine Nudelsuppe auch direkt aus der Schale und ohne zu löffeln schlürfen darf.
Die Prophezeiung meines Freundes ist eingetreten, es scheint in ganz Shenzhen keine Mundschutzmasken in den Apotheken mehr zu geben. Am letzten Abend mache ich spät Feierabend und erinnere mich im noch im letzten Moment an Tyrones Einladung. Hastig verlasse ich das Hotel in Richtung der beschriebenen Bar. Auf der Strasse sehe ich nach wenigen Metern plötzlich die Silhouette des grossen Afroamerikaners aus der Dunkelheit von weitem auf mich zu kommen. Er gestikuliert mit beiden Armen in meine Richtung und trägt eine Atemschutzmaske. Der Laden sei dicht, schildert er mir ausser Atem. Da gestern eine Reisegruppe aus Wuhan in der Umgebung der Bar gesichtet worden sei soll, habe die Barbesitzerin entschieden vorerst zu schliessen. Er würde jetzt sofort aufs Zimmer gehen, das sei ihm alles nicht mehr geheuer. Da ich am nächsten Tag sehr früh aufstehen muss, um zum Flughafen zu gelangen, gehe auch ich bald ins Bett. Ich gönne mir noch ein Bierchen in der Lobby. Die einzige Marke, die sie hier verkaufen (wie sollte es auch anders sein), ist tatsächlich Corona. Na, dann Prost, noch nie war die Vorfreude auf einen chinesischen Inlandflug so gross.
Du willst wissen, wie es weitergeht. Dann darfst du dich auf den Teil Nr. 2 freuen (hier klicken).